Blickwinkel
Über den Horizont
Himmelsrichtungen dienen Menschen seit jeher als Orientierung. Dabei sind sie nicht nur Hilfsmittel zur Bestimmung einer geografischen Lage, sondern besitzen in vielen Kulturen auch eine spirituelle Bedeutung.
Doch alle vier Seiten des Horizonts sieht man nur selten, wenn man von der in den Himmel ragenden Architektur der Stadt umgeben ist. Eine weite Sicht hingegen lässt uns den Tag und seinen Verlauf noch einmal ganz anders wahrnehmen – und in diesem Kontext vielleicht sogar uns selbst.

Es ist einer der natürlichsten und unumstößlichsten Zyklen überhaupt. Doch nur selten verfolgen wir den Verlauf der Sonne über den Tag hinweg bewusst oder richten uns gar danach. Denn wann stehen wir schon mit Sonnenaufgang auf oder gehen mit der Abenddämmerung schlafen?
Höchstens in einigen südlichen Ländern hat sich bis heute die Mittagsruhe durchgesetzt: Statt in der flimmernden Sonne körperlicher Arbeit nachzugehen und sich dabei übermäßig anzustrengen, wird Siesta abgehalten.
Die Sonne ist wohl der zuverlässigste Wegweiser der Himmelsrichtungen. Im Osten beginnt sie den Tag, im Süden wandert sie am Mittag zum höchsten Punkt und im Westen sinkt sie nieder.
Wer sich nun an die eine oder andere Eselsbrücke aus Schultagen erinnert, dem fällt vermutlich folgender Spruch ein: „Niemals ohne Seife waschen.“ Norden, Osten, Süden und Westen werden hier in der Reihenfolge genannt, in der sie im Uhrzeigersinn auch auf jeder Karte zu finden sind.
Doch genauso wenig, wie wir nach der Sonne leben, genauso selten setzen wir uns heute in der Regel mit den Himmelsrichtungen auseinander. Wir nutzen Google Maps, wenn wir einen bis dato unbekannten Ort ausfindig machen möchten. Wir fahren mithilfe von Navigationsgeräten und für den seltenen Fall, dass wir einen Kompass benötigen, laden wir ihn per App runter.
Wenn wir die Zeit haben, buchstäblich in den Tag hineinzuleben, dann lohnt es sich, seinen persönlichen Rhythmus intuitiv an den natürlichen Tagesverlauf anzupassen.
Mit dem Liegestuhl mit der Sonne mitzuwandern. Seine Aufmerksamkeit konkret viermal am Tag jeweils einer Himmelsrichtung zu schenken. Denn die Chancen, dass unser eigenes Tempo dabei erheblich verlangsamt wird und wir uns auf uns selbst besinnen, stehen dabei ziemlich gut.
Doch nicht nur am hellichten Tag kann man sich am Horizont orientieren. In der Dunkelheit bedarf es zwar etwas mehr Können, um eine Richtung zu bestimmen, doch der Sternenhimmel bietet dafür eine umso mystischere Atmosphäre.
Am naheliegendsten ist es, den Polarstern ausfindig zu machen. Er weist zuverlässig in Richtung Norden, wacht über dem Nordpol. Er ist besonders hell und bildet das „Deichselende“ des Sternbildes Kleiner Wagen, welches wiederum oberhalb des Großen Wagens zu finden ist.
Mit einem geschärften Blick für die Natur lassen sich die Himmelsrichtungen aber nicht nur anhand von Himmelskörpern bestimmen, sondern auch anhand von ganz kleinen Indizien: Bäume sind hierzulande zum Beispiel an der Wetterseite, der Westseite, am ehesten mit Moos bewachsen und neigen sich leicht gen Osten.
Der Osten ist wohl die Himmelsrichtung, die aus religiöser Sicht die größte Rolle innehaben mag.
Im Christentum etwa symbolisiert der Osten die Auferstehung. Lange Zeit war die „Ostung“ christlicher Kirchen gang und gäbe – „ex oriente lux“ heißt es auf Latein: „Aus dem Osten kommt das Licht“.
Es wird angenommen, dass der Begriff Osten und das Wort „Ostern“ miteinander in enger Verbindung stehen.
In der nordischen Mythologie ist von vier Zwergen die Rede, die den Himmel stützen und auch hier lässt sich eine Namensverwandtschaft heraushören: Norðri, Suðri, Austri und Vestri werden die Wesen genannt.
Tatsächlich spielten aber unter anderem schon bei den Alten Ägyptern oder auch bei den Azteken die Himmelsrichtungen eine bedeutende spirituelle Rolle.
Die Ägypter etwa richteten bei der Bestattung die Organe der Verstorbenen nach den Himmelsrichtungen aus. Leber, Magen, die Unterleibsorgane und die Lunge wurde dem Glauben nach von je einem der vier „Herren der Himmelsrichtungen“ bewacht, der die Reise der Toten ins Jenseits begleitete.
Jeden der vier wiederum beschützte eine der Schutzgöttinnen der Toten: Isis, Nephtys, Neith und Selket.

Bei den Azteken war es die Pflicht des Königs, um Mitternacht das Schlaflager zu verlassen, um die vier Himmelsrichtungen zu prüfen.
Gemäß ihrer Vorstellung war der Osten „die Region des Lichtes“, und wurde mit philosophischen Aspekten in Verbindung gebracht. Der Norden wurde der Nacht und den Toten zugewiesen. Der Westen galt als Region der Fruchtbarkeit und des Lebens.
In der Kultur der Maya wurde neben den Himmelsrichtungen auch der Zenit berücksichtigt, symbolisch standen die somit insgesamt fünf Richtung für die Einheit von Zeit und Raum.
Wie viele Indianerstämme glaubten sie daran, dass wenn sie diesem unwiderruflichen Zyklus Respekt zollen, ihn dadurch erhalten und somit auch ihr eigenes Leben, das daran gebunden war.
Auf tibetischen Gebetsfahnen werden bis heute vier Symboltiere für die vier Himmelsrichtungen abgebildet: Der Schneelöwe, der dem Osten zugeordnet wird, steht repräsentativ für Furchtlosigkeit. Der Tiger, rechts unten auf den Gebetsfahnen abgebildet, seht für Vertrauen. Der Drache repräsentiert die Quelle der Kraft und Kreativität. Der Garuda, halb Mensch, halb Adler, steht für Weisheit und Freiheit.
Die Tiere symbolisieren die heiligen Qualitäten des Bodhisattvas auf dem Weg zur Erleuchtung.
Auch in jener Form des Schamanismus, der seinen Ursprung in den Anden und Amazonasgebieten hat und einige Parallelen mit der Weltanschauung der Azteken aufweist, werden die vier Seiten des Horizontes mit vier Archetypen in Verbindung gebracht: Jaguar (Westen), Adler (Osten), Kolibri (Norden) und Schlange (Süden).
Und erneut bringt jede Himmelsrichtung ihre eigene Kraft mit sich, zu der, den Körper in die entsprechende Himmelsrichtung ausgerichtet, auch Meditationen insbesondere zur Schärfung der eigenen Intuition ausgeübt werden.
So steht die Schlange bzw. der Süden unter anderem für die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit, der Jaguar bzw. der Westen setzt sich mit Integrität und Furchtlosigkeit auseinander, der Kolibiri bzw. Norden steht für Mühelosigkeit und Freude und der Adler und somit der Osten für Klarheit und Visionen.
Ob man nun spirituell ist oder nicht: Sich auf sich selbst, seine Ziele, Ängste und Energie zu fokussieren kann sehr viel leichter fallen, wenn man sich an Fixpunkten orientiert, seien es nun Tageszeiten oder Himmelsrichtungen.
Denn im Trubel des Alltags kommt es oft viel zu kurz, sich auf sich selbst zu besinnen und zu prüfen, ob das Äußere dem Inneren folgt; ob man mit seinen Werten übereinstimmt.
Wer sich weniger auf die tiefgreifenden spirituellen Aspekte der Himmelsrichtungen besinnen möchte, den Blick aber ab und zu doch gern über den Horizont wandern lässt, der wird von nun an vielleicht zumindest an einen kleinen germanischen Brauch erinnert: Dieser besagt, dass man alle Bewegungen, denen man Glück bzw. Gelingen wünscht, sonnenläufig, also von links nach rechts, ausführen sollte.