Achtsamkeit
Die Kunst des Tagebuchschreibens
Die leuchtenden Farben des Sonnenuntergangs, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen und die stille Ruhe des Windes, der durch die waldige Landschaft rauscht – die Natur flüstert uns allerlei Geschichten zu, die unsere Gedanken und Gefühle kitzeln. So flüchtig sie auch sind, diese Eindrücke auf Papier zu bringen, ist weit mehr als nur eine Bestandsaufnahme. Wie der berühmte Naturforscher und Tagebuchschreiber John Muir auf zahllosen Seiten über seine Abenteuer in der Natur festhielt: „Hinausgehen, so fand ich heraus, bedeutet eigentlich, hineinzugehen”.
Ob du bei einem Streifzug innehältst, um deine Entdeckungen festzuhalten, oder es dir an deinem liebsten Zufluchtsort in der Natur gemütlich machst – der Stift in deiner Hand kann zu einer Brücke zwischen dir und deiner Umgebung werden. Dazu braucht es gar nicht viel. Eigentlich geht es nur darum, anzufangen.

Aller Anfang...
Für das Schreiben deines Naturtagebuchs brauchst du nur dich selbst und ein bisschen Zeit. Abgesehen davon bedarf es keiner komplexen Ausrüstung. Halte es simpel und tragbar, damit du unterwegs alles zur Hand hast. Ein leeres, gebundenes Notizbuch ist ideal für deine Beobachtungen, da lose Seiten draußen leicht vom Wind weggeweht werden können. Hinzu kommt ein Kugelschreiber oder Bleistift, mit dem du gerne schreibst, und alle Materialien, die du für das Medium deiner Wahl benötigst, ob Wasserfarben, Textmarker oder eine Kamera.
Beginne deine Journaling-Reise in deinem eigenen Garten, an deinem Lieblingsplatz im Park, auf einem Wanderweg in der Nähe oder an einem für dich vollkommen neuem Ort – es gibt kein Richtig oder Falsch, solange du eine Verbindung zur Natur spürst.
Beim Häuten der Zwiebel
Beim Tagebuchschreiben in der Natur gibt es unzählige Aspekte, die du festhalten kannst, um deine Wahrnehmungen und Gefühle zu Papier zu bringen. Aber wo anfangen, ist die Frage.
Stell dir einfach eine Matrjoschka-Puppe vor, die für dich als Kind so viele Geheimnisse barg: Beginne bei deinen Eindrücken ganz außen, um nach und nach zum Kern zu gelangen. Notiere deine äußeren Sinneserfahrungen im Detail, von Bildern und Geräuschen bis hin zur Haptik von Pflanzen und Bäumen oder den Düften der Terpene. Fange die Veränderungen im Sonnenlicht, das Gefühl des Windes auf deiner Haut und das Knirschen der Blätter unter deinen Füßen ein. Beschreibe das Wetter, die Formen und Farben, die dir ins Auge fallen, die Merkmale der Flora und Fauna. Von dort aus kannst du dich langsam nach innen wenden, indem du über deinen Gemütszustand, deine Gefühle oder aufkommende Gedanken sinnierst. Welche Erinnerungen, Ideen oder Überlegungen gelangen an die Oberfläche, während du still zwischen den Bäumen sitzt? Wohin entführen sie deinen Geist, deinen Körper und deine Seele? Wie fühlst du dich in der Landschaft? Lass dich von dem Fluss deiner Empfindungen mitreißen und schreib alles auf.
Falls du eher visuell veranlagt bist, könnte Zeichnen vielleicht ein noch besserer Zugang für dich sein, um die Welt um dich herum einzufangen. Du kannst dein Tagebuch zudem mit Fotos ergänzen, Nahaufnahmen von Tieren, Blumen und Bäumen oder mit getrockneten Blättern und Blüten. Drucke sie aus oder klebe sie auf die Seiten als kleines Souvenir aus deiner Zeit in der Natur.

Die Macht der Gewohnheit
Während deine Orte in der Natur gerne wechseln dürfen, ist die Kunst des Tagebuchschreibens besonders bereichernd, wenn du eine Routine entwickelst. Beginne damit, dir 2-3 Mal pro Woche 10-30 Minuten Zeit zu nehmen. Vielleicht reservierst du dir sogar einen festen Platz in deinem Kalender – ganz für dich allein – um zu verhindern, dass dein Tagebuch bei all den Verpflichtungen des Alltags auf der Strecke bleibt.
Setze dich nicht unter Druck (das würde diese wunderbare Übung nur in einen weiteren Punkt auf deiner To-Do-Liste verwandeln), sondern sieh es einfach als eine kleine Erinnerung ans Schreiben. In manchen Wochen hast du vielleicht mehr Zeit, in anderen weniger; passe die Häufigkeit und Länge deiner Sessions einfach an deinen Zeitplan an. Mit der Zeit wirst du schließlich merken, wie das Schreiben deines Tagebuchs zur Gewohnheit wird, zusammen mit der Entspannung und der Ruhe, die es dir bringt.
Lass los
Beim Tagebuchschreiben geht es nicht darum, besonders witzig, clever, unterhaltsam oder poetisch zu sein. Es geht auch nicht darum, Bestseller-Memoiren zu schreiben. Sondern allein darum, das zu beobachten und festzuhalten, was ganz natürlich kommt. So schwer es auch klingen mag, versuche, deine Einträge oder die Qualität deines Schreibens nicht zu bewerten oder dir bestimmte Maßstäbe zu setzen. Du (und damit auch deine Worte) müssen nicht perfekt sein. Konzentriere dich stattdessen auf den Prozess und genieße die kontemplative Zeit im Freien.
Reduziere Ablenkungen auf ein Minimum, lass dein Smartphone links liegen und bringe deine inneren Stimmen zum Schweigen, die dich an deine bevorstehenden Aufgaben erinnern. Nimm einfach deine natürliche Umgebung mit all deinen Sinnen wahr und mach deinen Kopf frei, um ganz ins Hier und Jetzt einzutauchen.

Ein lebendiger Augenblick
Was das Schreiben eines Tagebuchs zum wirklichen Vergnügen macht, ist das Durchblättern der Seiten Wochen, Monate und Jahre später. Getrocknete Blumen, Zeichnungen von Blättern und einstige Gedanken versetzen dich zurück in jene friedlichen Momente, in denen du unter dem Blätterdach einer alten Kiefer gelegen und dem Raunen der Tiere gelauscht hast. Auch wenn die Eindrücke des Waldes und der Felder längst verschwunden sind, leben deine Beobachtungen in deinem Tagebuch weiter und erinnern dich daran, dass Stille und Inspiration fast überall zu finden sind, ganz unabhängig von deiner Umgebung.
Text: Annie Button